Irgendwo in einer Welt voller Menschen

Irgendwo in einer Welt voller Menschen… so fing ihr Satz an, den sie sich überlegt hatte, wenn sie jemand ansprechen sollte. Emily wusste noch nicht, wie ihn beenden wollte, während sie am Rande der Tanzfläche in Mitte des Rubins stand. Wobei der Tanzschuppen wenig glamourös erschien, sondern mehr wie ein billiger Flohmarkt. Hier und da Bling-Bling, aber eigentlich nur alter, unbrauchbarer Schrott.

Was sie hierhin brachte, war eine Mischung aus Samstagsabendseinsamkeit und die Tatsache das all ihre Freundinnen bereits verplant oder in einer langweiligen Beziehung vergeben waren und damit verdrängten noch jung zu sein und gleich zu Bingo-Abende übergingen (wobei sie sich gleichzeitig fragte, welche alte Menschen heute noch Bingo spielten). Und so war sie nach einem Glas Wein und der tausendsten, deprimierenden Wiederholung von Bridget Jones auf die Idee gekommen ihre junge Zeit vollkommen auszuschöpfen und in einen Club zu gehen. Das Klientel in dem rotfarbenen Edelstein ließ zu wünschen übrig und so überlegte sich Emily bereits nach einem Glas Cola, die sie am Rande der Tanzfläche zu sich nahm, wieder nach Hause zu gehen.

Plötzlich stieß von der Seite ein großer Kerl mit leichtem Bart gegen sie. Sein Bier schwappte über ihr halbes Hemd, dass extra weiß war, um im Blaulicht leuchten zu dürfen. Sie sah ihn wütend an, holte dann aber einen tiefen Atemzug.

„Sorry.“ Der Mann hob entschuldigend seine Hand nach oben. Dann betrachtete er Emily näher.

„Ich bin übrigens Cal“, stellte er sich vor und reichte ihr die Hand, mit der er sich gerade noch entschuldigt hatte.

„Irgendwo in einer Welt voller Menschen…“ Noch bevor sie den Satz, dessen Ende sie immer noch nicht kannte, zu Ende ausführen konnte, unterbrach sie Cal.

„Hast du irgendwas genommen?“ Emily machte den Mund auf, doch Cal drehte sich bereits um und stürzte sich auf das nächste Objekt seiner Begierde, die er mit seinem Smalltalk nervte.

Emily stand wieder alleine in dem Club voller Menschen. Sie war schon jetzt genervt und wollte nicht mehr. Sie hatte gehofft, wenigstens die Musik würde sie zum Tanzen bringen. Doch statt guter Partymusik dröhnten die Boxen nur gleichbleibende Techno-Musik heraus. Sie stellte ihr halbleeres Glas auf den Tresen und drehte sich um. Was sie auch gesucht hatte, sie würde es garantiert nicht hier finden.

An der Garderobe gab sie ihre Marke ab und bekam ihre dicke Winterjacke zurückgegeben.

„Heeey!“ Ein offensichtliches laufendes Fass Bier rempelte sie von der Seite an und sprach sie an.

„Sorry“, zitierte sie den Typen von zuvor, dessen Namen sie schon wieder vergessen hatte und ging weg. Sie wusste, dass Höflichkeit anders geschrieben wurde, doch sie hatte nach diesem Abend kein Interesse mehr an oberflächlicher Höflichkeit.

Genervt stapfte sie in die kalte Dezembernacht heraus und ging durch die Menschen befüllten Straße einer Samstagnacht. Sie ging ohne Blickkontakt aufzunehmen an den Grüppchen vorbei. Ihr einziges Ziel war ihr Zuhause. Dafür musste sie zuerst die Bahnhaltestelle erreichen. Sie sah auf ihr Handy. Die Bahn würde ihn zehn Minuten da sein und sie brauchte noch fünf Minuten bis zur Bahnhaltestelle. Sie ging an zahlreichen Clubs und Bars vorbei, wobei bei Einigen laute Musik rausdröhnte. Ein Laden spielte ein wirklich gutes Lied ab. Wie gerne hätte sie an diesem Abend zu diesem Lied getanzt. Doch nun war sie bereits vor zwölf Uhr wieder auf den Weg nach Hause. Wie sie es auch drehte und wendete, sie wusste nicht, was Leute jedes Wochenende hier hintriebt außer pure Einsamkeit und Verzweiflung mit einem Hauch Verdrängung. Was versuchte sie zu verdrängen?

Diese Frage stellte sich Emily, während sich durch die Kälte der Nacht sichtbar eine Wolke vor ihrem Gesicht bildete und sich dann wieder in Luft auflöste. Bis zum nächsten Atemzug.

An der Bahnhaltestelle zeigte ihr die Tafel, die verbleibenden vier Minuten bis zum Ankommen ihrer Straßenbahn an. Ein Typ kam plötzlich auf sie zu.

„Hallo“, lächelte sie ihm freundlich zu. Sie wusste nicht, woher dieser Impuls kam. Der Typ sah sie an.

„Hallo“, lächelte er freundlich zurück und blieb einen Meter vor ihr stehen. Sein Grübchen fiel ihr selbst in dem unscheinbaren Nachtbeleuchtung auf. Sie hatte schon immer eine Schwäche für Lachgrübchen gehabt.

„Kann ich deine Nummer haben?“ Sie wunderte sich selbst darüber, sich das Fragen zu hören. Der Typ fing an breiter zu Grinsen.

„Natürlich“, sagte er. Sie hielt ihm ihr Handy hin, wo er nur noch seinen Kontakt eingegeben musste. Während er die Zahlenreihenfolge seiner Nummer eingab, merkte Emily wie hinter ihr die Straßenbahn einfuhr.

„Danke“, sagte Emily, als ihr der Unbekannte, dessen Name sie auf ihren Bildschirm leuchten sehen konnte, das Handy zurückgab. Die Bahn hinter ihr war bereits zum Stehen gekommen und sie stieg ein. Sie suchte sich einen Fensterplatz, der einen Blick auf seine Richtung freigab. Als die Bahn losfuhr, suchte sie die Bahnhaltestelle nach seinem verabschiedenden Blick ab. Aber er war bereits in der dunklen Nacht verschwunden. Eine Enttäuschung machte sich in ihrer Brust breit. Sie wusste nicht, dass dieser Enttäuschung, noch Bitterkeit weichen würde, wenn er sie morgen per Chat fragen würde, ob sie ihm Nacktbilder von sich schicken könnte. In diesem Augenblick wusste sie nur, dass schon jetzt ihre romantische Vorstellung der Realität gewichen war. Wie so viele Male zuvor. Irgendwo in einer Welt voller Menschen… Sie kannte noch immer nicht das Ende jenes Satzes.

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Der Riss

Ich erinnerte mich, wie ich auf dem feuchten Boden der U-Bahnstation ausrutschte. Mein Po rodelte herunter. Das Karnevalsbier klebte an meiner Hose. Als ich auf mein Handy sah, welches ich während meines rutschigen Manövers in der Hand hielt, sah ich ihn. Den Riss. Er durchschlängelte sich an der unteren, linken Ecke meines Handys. Eine Entscheidung, ein Riss.

Ein Jahr später. Ich kramte meinen Laptop aus der Tasche. Als ihn aus der Tasche kramte, sah ich ihn oben Links. Den Riss. Eine Entscheidung, ein Riss.  

Zwei Zeitpunkte. Ein Blick. Eine Frage. Ich starre den Riss an. Er stört mich. Irgendwann vergesse ich ihn. Er verschwindet aus meinem Blickfeld. Auch wenn er noch da ist. Er ist immer da. Nur nicht in meinem Wahrnehmungsfeld. Er verschwindet in der Nicht-Wahrnehmung. Eine Entscheidung, ein Riss. Dieselbe Frage. Den ersten Riss kittete das Schicksal. Der zweite Riss steht in den Sternen.

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Wonderful Life – Eine Kurzgeschichte

Das Schwierigste im Leben war nicht für andere zu leben, sondern für sich selbst. Auch Susi machte diese Erfahrung. Sie stand auf der Brücke an der Themse und schloss die Augen. Sie dachte an jene lauwarme Sommernacht vor sechs Jahre, wo sie bereits schon mal an dieser Stelle stand. Sie stand auf der anderen Seite des Geländers. Sie erinnerte sich an den Mann, der sie aufhielt. Der Mann von dem Susi ihr Leben abhängig machte. Heute ging sie dieselbe Brücke entlang. Es war ein kühler Herbstabend. Der Mann war schon vor Jahren aus ihrem Leben verschwunden. Trotzdem konnte Susi das Gefühl nicht loslassen, nur für ihn zu leben. Sie hielt daran fest, als hinge ihr Leben davon ab. Irgendwie hatte es auch von ihm abgehangen. Er war ihr Grund zum weiterleben gewesen. Die Hoffnung an die sie sich klammerte. Wenn sie ihn loslassen würde, hätte sie niemanden mehr, an den sie sich festklammern könnte. Sie wusste nicht, ob sie schon bereit dafür war. Ihre Selbstzweifel hatten ihre Vergangenheit durchlöchert. Sie hatte versucht die Löcher mit Hoffnung zu stopfen; die Hoffnung an ihre Liebe.

Als sie dort stand und die Augen öffnete, sah sie nicht wie damals eine todbringende Möglichkeit. Sondern nur einen dunklen Schatten ihrer Vergangenheit, der ihre Gegenwart begleitete. Sie hatte alles abgelegt. Ihre dunklen Gedanken, ihr dunkles Gemüt. Nur ihn hatte sie noch nicht abgelegt. Hätte sie die Zukunft gekannt und nicht seiner Lüge geglaubt, hätte sie sich anders entschieden? Vermutlich nicht.

Als sie dort stand und die Brücke entlang blickte, sah sie etwas. Einen Mann. Sie fing an in seine Richtung zu gehen und plötzlich erkannte sie es. Er wollte über das Geländer klettern.

„Nicht!“, schrie Susi und lief auf ihn zu. Doch je näher sie kam, desto klarer wurde das Bild. Es war der Mann, der ihr sagte, sie solle weiterleben. Sie solle nicht aufgeben. Der Mann von dem Susi ihr Leben abhängig gemacht hatte. Dieser Mann war dabei über das Geländer zu klettern und in die Tiefe zu stürzen, in der sie vor langer Zeit auch hineinstürzen wollte.

„Bleib!“, schrie Susi, während sie weiter auf ihn zulief. Der Mann schaute in ihre Richtung. In seinen Augen blitzte ein Funkeln des Erkennens auf.

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Der Geist der vergangenen Weihnacht – Eine Kurzgeschichte

Obwohl Olivia starb, spürte sie keine Schmerzen. Es ging so schnell, dass ihre Nervenbahnen nicht mal die Möglichkeit hatten, ihre Verletzungen an ihr Schmerzzentrum weiterzuleiten. Sie konnte an nichts mehr denken. Kein letzter Gedanke, der ihr durch den Kopf schoss. Die direkte Schwärze umfasste und verschlang sie. Die Flammen des in Sekunden explodierten Autos flackerten hingegen lichterloh in der Nacht. Das Zeichen für Leben bedeutete ihren Tod.

Doch die eingetretene Schwärze war nicht ihr Ende. Wer war dieses Wesen, welches sie zurückholte?

„Erkennst du mich nicht?“ Olivia musste zweimal hinschauen. Sie war in einem Raum, der einer Nicht-Realität glich.

„Wo bin ich?“, fragte sie orientierungslos.

„Falsche Frage. Die Frage ist, wie du bist.“ Olivia schaute verwirrt das Lichtwesen in der Mitte des Raumes an, während es immer mehr Gestalt annahm.

„Tod oder lebendig?“ Da durchzuckte es Olivia wie ein Blitz. Sie versuchte an ihren Körper herunterzusehen, sah jedoch nur weißes Licht.

„Ich bin tot?“

„Weder das eine noch das andere. Du hast bei unserem Casting gewonnen.“

„Casting?“ Olivia verstand nichts mehr an dieser Situation. Sie fühlte sich leicht und doch grundlegend haltlos.

„Sozusagen. Du wurdest als Geist der vergangenen Weihnacht ausgesucht“, erklärte das warme Lichtwesen. Wer…

„Für wen?“

„Da komme ich ins Spiel, schätze ich.“ Und da erkannte sie die Gestalt. Die Seele ihres Exmannes. Sie hatte ihn nicht wiedererkannt. Sein Licht war so rein und klar. Nicht wie die Dunkelheit, die ihn in seinem Leben eingenommen hatte. Er war in ihrer Ehe ihr persönlicher Schatten gewesen. Nach ihrer Scheidung hatte sie ihn nur einmal wiedergesehen. Ihre gemeinsame Tochter hingegen kein einziges Mal mehr. Sie war ein Engel, den er in den Abgrund gerissen hatte.

„Marianne braucht uns.“ Ihre Tochter lebte. Er war hingegen schon vor Jahren gestorben. Alkoholvergiftung.

„Du musst ihr etwas aus der Vergangenheit zeigen. Eine Erinnerung.“

„Was für eine Erinnerung?“

„Du wirst es wissen, wenn es soweit ist. Für das erste reicht es, wenn du deine Rolle in dieser Nacht kennst.“ Die Klarheit war von einem verschmierten Schimmer umgeben.

„Und welche Rolle spielst du?“

„Ich bin der Bote, der Ankündiger, die gequälte Seele, die ihr die Geister voraussagen wird.“ Dann verschwand Olivia in der leeren Dunkelheit. Ein Nichts.

Licht. Sie erkannte das Gesicht ihrer einzigen Tochter. Sie ging aus dem Bürogebäude heraus, wo sie schon seit Jahren arbeitete. Sie beobachtete sie aus der Vogelperspektive. Mary. Ihr Spitzname. Sie wisch sich leicht und kurz über ihre Nase. Olivia wusste sofort, was das bedeutete. Sie hatte ihre Tochter schon zu oft High gesehen. Olivia blieb vor ihrer Tochter stehen und sah sie direkt an. Mary hingegen starrte vor sich auf den Boden, als sei sie kein Teil ihrer Umgebung.

„Mary, mein Liebes“, sprach Olivia zu ihr. Mary schaute geschockt auf und starrte direkt in ihre Augen. Sie blinzelte zweimal. Dann ging sie weiter, ohne ihre Mutter aus den Augen zu lassen.

„Warte!“ Olivia versuchte ihre Tochter aufzuhalten, doch sie ging einfach durch sie hindurch. Für einen Moment fühlte sich Olivia wieder haltlos. Doch sie schloss die Augen. Sie wusste, welche Erinnerung sie ihrer Tochter zeigen musste.

Im nächsten Moment standen die beiden in ihrem früheren Zuhause.

„Das ist nicht echt“, wehrte Mary ab.

„Stimmt. Es ist nur eine Erinnerung“, stimmte Olivia ihr zu.  Die kleine Mary lief fröhlich an ihnen vorbei.

„Mami! Papi!“, lief die kleine sechsjährige Mary in das Wohnzimmer ihrer Eltern. Ihre Mutter lag bewusstlos auf dem Boden. Ihr Vater stand mit blutender Hand und sturzbetrunken über ihr.

„Deine Mutter ist eine blöde Schlampe. Vergiss das nie! Eine widerliche, blöde Schlampe“, schrie Marys Vater in den Raum. An diesem Tag wäre Olivia bereits das erste Mal beinahe gestorben. Die kleine Mary starrte ihre blutüberströmte Mutter an, die reglos am Boden lag.

„Mami!“, fing Mary an zu weinen.

„Eine widerliche, blöde Schlampe“, wiederholte ihr Vater, während er sich mit der Wodkaflasche auf das Sofa setzte und daran trank. Mary hingegen rannte zum Telefon. Ihre Mutter hatte ihr bereits beigebracht, welche Nummer man wählen sollte, wenn jemand verletzt war. Sie wählte den Notruf. Es dauerte keine zehn Minuten bis der Krankenwagen da war. Als der Rettungsdienst auf den aggressiven Mann traf, riefen sie die Polizei. Olivia hatte ihren Exmann danach nur ein weiteres Mal gesehen: vor Gericht. Mary hingegen ihren Vater nie wieder.

Ihre Erinnerung wechselte.

Die vierzehnjährige Mary schrie ihre Mutter an.

„Es geht dich einen Scheiß an, ob und mit wem ich Alkohol trinke, Drogen nehme oder sonst was mache. Du bist eine widerliche, blöde Schlampe!“ Dann rannte Mary raus. Sie würde erst eine Woche später wieder Zuhause auftauchen.

Als die erwachsene Mary ihr jugendliches Ich sah und wie dieses ihre Mutter so anschrie, wie ihr Vater es getan hatte, fing Mary an zu weinen.

„Das wollte ich nicht. Es tut mir so leid, Mami. Ich liebe dich doch!“ Ihre Tränen hörten nicht mehr auf. Olivia nahm ihre Tochter in den Arm, auch wenn Mary es nicht spüren konnte.

„Ich weiß. Und ich liebe dich“, erklärte Olivia ihrer Tochter. Olivia lächelte sie an. Ihre Tochter verschwamm immer mehr vor ihren Augen und das Nichts verschlang Olivia endgültig.

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Das Stufentreffen

Mandy nahm Trishas Hand und zog sie mit rein. Die kleine Turnhalle war schon voll. Sie erinnerte sich an den früheren Sportunterricht hier. Volleyball war ihr Lieblingssport gewesen. Es war das einzige Mal, wo sie all ihre Klassenkameraden in den Schatten gestellt hatte. Außer die neuen Matten, hatte sich in den zwanzig Jahren seit ihrem Schulabschluss nichts verändert; im Gegenteil, es war noch immer dieselbe alte Turnhalle wie zu ihrer eigenen Schulzeit. Ein prähistorisches Gebäude der siebziger Jahre. An dieser Schule waren Zeitreisen tatsächlich möglich.

Trisha sah durch die Menge und blieb an einigen Gesichtern hängen. Die Menschen waren immer noch dieselben wie früher, nur vom Alter gezeichnet. Sie merkte kaum, wie sie unbewusst die Menge nach einem bestimmten Gesicht absuchte. Mandy zog sie weiter rein.

„Carsten, hier ist Trish. Erinnert ihr euch noch an damals, als du auf Klassenfahrt in der sechsten Klasse versehentlich in der Jungendusche warst und dich Carsten nackt gesehen hatte? Carsten, du hattest die Ehre als erster Junge Trish splitternackt begutachten zu dürfen.“ Mandy hatte sich in der Hinsicht kein Stück verändert; sie war immer schon gnadenlos direkt und hatte Trisha schon in ihrer Jugend in einige, für sie unangenehmen, Situationen gebracht. Carsten schaute leicht errötet an ihr vorbei. An seinem Ringfinger erkannte Trisha ein goldenes Aufblitzen. Sie wusste, es würde nicht der letzte Ehering sein, den sie heute sehen würde. Obwohl ihr aller Leben bis zum Schulabschluss ähnlich verlaufen war, wusste sie, dass ihr Leben danach unterschiedlicher nicht hätte sein können. Sie hatte nie geheiratet und hoffte in ihrem Herzen, dass sie die Frage nach dem Warum heute nicht beantworten würde müssen. Just in diesem Moment kamen Mona und ihre beiden Wackeldackel, die sie seit der Schulzeit offensichtlich behalten hatte, auf sie zu.

„Trish! Dich habe ich ja Ewigkeiten nicht gesehen! Wie schön, dass du hier bist.“ Mona streckte begrüßend ihre Arme aus. Trisha nahm sie nur widerwillig und halbherzlich an. Die Vorstellung mit Mona eine längere Unterhaltung führen zu müssen, ließ sie versteifen. Ihre beiden Wackeldackel waren glücklicherweise nicht so überschwänglich, sondern wackelten einfach nur im Einklang mit ihren Köpfen Trisha entgegen.

„Was hast du so gemacht? Erzähl mir alles!“, wandte sich Mona mit einer aufgesetzten Fröhlichkeit zu ihr. Trisha wollte gerade zum Reden einer nichtssagenden Floskel ansetzen, da rief jemand von der Seite nach Mona.

„Entschuldigung. Ich bin die Mitorganisatorin dieses ganzen Ehemaligentreffens, weshalb man kaum eine ruhige Minute hier hat. Vergiss nicht, was du sagen wolltest, ich komme später wieder.“ Trisha hoffte, dass dieses wage Später nie eintreffen würde. Erleichtert wandte sie sich wieder Mandy zu. Diese war jedoch an das andere Ende der Halle verschwunden, wo sie mit ihrer ehemaligen Lehrerin redete. Trisha stand verloren in der Gegend und wusste nicht, wohin mit sich.

Genau in diesem Moment der Verlorenheit, bekam sie die Person zu Gesicht, dessen Anwesenheit sie befürchtet hatte und gleichzeitig ihr sehnlichster Wunsch war. Er war gerade in einem Gespräch vertieft, als er ihr Blick auf sich ruhen spürte und in ihre Richtung schaute. Als sein Blick sie einfing, verfiel sie in eine Schockstarre. Seine Augen starrten sie direkt an. Trishas Herz klopfte, wie es schon in der achten Klasse angefangen hatte zu Klopfen. Er war bis zu dieser Klassenfahrt nur einer von vielen gewesen, der in eine Parallelklasse ging. Doch als sie in den kalten Schnee gefallen war und er ihr in einen unbeobachteten Augenblick seine Hand gereichtet hatte, war es um sie geschehen. Sie schwärmte immer von ihm, als sie in den Pausen mehr Zeit miteinander verbrachten und er sie nach der Schule ein Stück nach Hause begleitete, bevor sich ihre Nachhausewege trennten. Es war schon eine Gewohnheit geworden mit ihm ein Stück nach Hause zu gehen, als der Tag eintraf, wo er all seinen Mut zusammennahm und ihr gestand, dass er sich in sie verliebt hatte. Trisha war daraufhin nur noch röter als sonst in seiner Gegenwart angelaufen, woraufhin er langsam ein Stück auf sie zutrat und seine Lippen auf die Ihre legte. Er war ihre ganzen ersten Male gewesen: ihr erster Kuss, ihr erster Freund, ihre erste große Liebe. Ein halbes Jahr später war er ihre erste Trennung, ihr erster Liebeskummer, ihr größter Herzschmerz geworden. Die Zeit heilte alle Wunden. Doch in dem Moment, wo sein Blick sie traf, riss ihre größte Wunde wieder auf und traf sie genau wie sein Blick, vollkommen unvorbereitet.

Alle in dieser Halle sahen älter aus, aber in diesem Moment erkannte sie die Motivation hinter einer solchen Veranstaltung. Sie alle wollten eine Zeitreise zurück in eine vergangene Zeit machen. In eine Zeit, in der die Zukunft noch weit entfernt und ein nicht greifbares Konstrukt reiner Vorstellungskraft war. In eine Zeit, in der noch alle Wege möglich schienen. Eine Gegenwartsflucht. Die Gegenwart war die weite entfernte Zukunft von damals. Als Trisha die Menschen in dem Saal ansah, sowie sich selbst, merkte sie, wie sich die Menschen in die Vergangenheit flüchten wollten, nur um nicht erkennen zu müssen, dass sie in der Gegenwart gefangen waren.

Er hörte für einen kurzen Moment auf, sie anzustarren und schaute wieder seinen Gesprächspartner an. Sie nutzte die Sekunde, um sich aus seinem Bann loszulösen. Sie ging zu der aufgestellten Theke mit dem selbst gebackenen Kuchen, welcher von der aktuellen Abschlussklasse der Schule verkauft wurde, womit sie sich ihren Abschlussball finanzierten. Sie kaufte sich ein Stück Käsekuchen und stellte sich gerade in die Ecke, als ihre Schulfreundin Emma sich zu ihr gesellte.

„Total komisch alle wiederzusehen, nicht wahr?“, fragte sie mit einem ehrlichen Lächeln.

„Irgendwie schon. Hat sich nicht viel verändert an der Schule“, stellte Trisha fest. Ihre Füße tippten immer noch leicht nervös auf dem Boden hin und her. Sie zwang sich dazu, Emma anzuschauen, obwohl ihr Unterbewusstsein, die ganze Zeit in eine andere Richtung schauen wollte.

„Mich wundert es, wie viele von den Leuten aus unserer Schulzeit geheiratet haben.“ Emma musste schon immer das Offensichtliche aussprechen. Trisha fragte sich, ob er geheiratet hatte. Sie war zu nervös gewesen, um auf seinen Ringfinger zu achten.

„Darauf habe ich gar nicht geachtet. Wer denn so?“, hakte Trisha nach. Emma zählte ein paar Namen auf, seiner war nicht darunter. Sie wusste nicht, ob sie das erleichterte oder nur noch nervöser machte.

Sie sah aus dem Augenwinkel eine Bewegung auf der aufgebauten Bühne und ein anschließendes Quietschen des Mikrofons, wovon sie sich kurz die Ohren zuhielt. Die Technik war wohl ebenfalls die Gleiche, wie vor zwanzig Jahren.

„Meine verehrten Damen und Herren, ich darf Sie alle recht herzlich Willkommen heißen“, verkündete Mona mit ihren knallrot geschminkten Lippen ins Mikrofon.

„Ich freue mich sehr, dass Sie alle gekommen sind.“ Darauf folgte eine kurze Rede über ihre ehemalige Stufe. Bis sie schließlich zu dem Teil kam, der auf der Einladung stand.

„Für heute haben wir von unserem Veranstaltungsteam deshalb etwas Besonderes überlegt. Wie Sie alle bereits aus der Einladung entnehmen konnten, kommen wir jetzt zu dem spaßigen Teil des Abends. Ich möchte mich schon mal von vornherein an unseren Techniker Hans bedanken, der heute die Karaoke Maschine bedient. Einen herzlichen Applaus für Hans.“ Hans winkte von der Seite in die Menge. Trisha klatschte brav mit. Sie wusste, dass heute Karaoke angesagt war, genauso wie sie wusste, dass sie sich heute vorgenommen hatte, die stille Beobachterin zu sein. Sie war noch nie gerne im Rampenlicht gewesen. Doch heute wünschte sie sich komplett unsichtbar zu sein.

Mona kündigte bereits die erste Freiwillige an. Trisha erkannte Jane, die mit ihren Locken und ihrer Stimmgewalt, während sie sanft auf ihrer Gitarre spielte, noch zwanzig Jahren später in ihrer Erinnerung geblieben war. Sie hörte ihrer wunderschönen Stimme zu, während Trisha die letzten Stücke ihres Kuchens aß.

Von der Seite tauchte plötzlich Mandy auf.

„Gute Nachrichten.“ Mandy grinste sie breit an. „Du bist die Nächste!“ Trisha verschluckte sich an ihrem letzten Kuchenstück, welches sie gerade runterschlucken wollte. Sie hustete ein paar Mal laut auf, woraufhin sie nur noch röter wurde.

„Bitte was?“, fragte sie, während sie nach Luft schnappte.

„Man kann die Leute, die singen sollen, vorne bei Hans eintragen. Da musste ich natürlich sofort an dich denken und unsere tolle Performanz auf Klassenfahrt. Natürlich habe ich das Lied aus deinem aktuellen Lieblingsfilm genommen. Auch wenn ich persönlich mit diesen ganzen Disneylieder nicht wirklich etwas anfangen kann. Aber ich weiß, was für ein großer Fan du bist“, erklärte ihr Mandy. Trisha stand sprachlos da, als Jane gerade ihren wohlverdienten Applaus bekam. Dann wurde Trisha auch schon auf die Bühne gerufen. Doch sie blieb regungslos stehen.

„Trish, komm auf die Bühne“, forderte sie Mona von der Bühne aus auf. Trisha schüttelte wild den Kopf.

„Nein“, sagte sie, doch es ging in dem höflichen Klatschen des Publikums unter. Mandy gab ihr einen Stups nach vorne. Mit weichen Knien ging Trisha auf die Bühne zu. Sie wollte am liebsten gar nicht weitergehen, schien aber keine andere Wahl zu haben. Ihr Blick traf ihn. Er stand etwas weiter weg, woraufhin sie zu Boden schaute, während sie die Bühne betrat.

„Freut uns, Trish. Die Bühne gehört dir“, kündigte Mona an und ließ sie alleine auf der Bühne stehen. Sie stellte sich an das Mikrofon und sah auf den Bildschirm, der am unteren Rand der Bühne platziert wurde, um den Karaoke Text anzuzeigen. Als sie den Titel sah, wusste sie welches Lied Mandy gemeint hatte. Die ersten Töne von Into the Unknown erklangen. Das Lied einer Eiskönigin, die den Ruf einer Stimme hört, diesen jedoch verweigert, weil sie nicht aus ihrer gewohnten Welt ausbrechen möchte bis sie schließlich den Ruf dieser Stimme folgt.

Bei der ersten Strophe war Trisha noch zurückhaltend, doch als der rufende Refrain auf dem Bildschirm aufleuchtete, konnte sie nicht anders. Eine Stimme aus ihrem Herzen fing laut an zu singen. Sie fing an, über die Bühne zu tanzen. Sie sah durch die Turnhalle, die Gesichter und ihr wurde klar, dass die meisten dieser Menschen ihrem Ruf nicht gefolgt waren. Sie wusste es, weil sie selbst dazu gehörte.

Während sie sang, erinnerte sie sich an alles. Wie sie an dieser Schule war und ihr Leben noch ein Traum voller Abenteuer und Reisen war, die sie alle noch erleben würde. Zwanzig Jahre später war der Traum entzaubert worden. Sie hatte nach dem Studium einen Beruf in einer kleinen Tageszeitung, die kaum noch Leser hatte, angenommen. Damals sagte sie sich, es sei nur ein vorläufiger Zwischenstopp für ihre zukünftige Karriereleiter. Heute arbeitete sie immer noch dort. Sie hatte sich nie ins Unbekannte getraut, sondern war lieber ihre gewohnten Bahnen geschwommen. Sie hatte nicht ihren Ängsten getrotzt, sowie die mutige Eiskönigin, die von ihrem Aufbruch sang. Doch in dem Moment, als sie von ganzem Herzen sang und dazu tanzte, während eine ganze Menschenmenge sie anstarrte, traf es sie wie ein Blitz. Sie hatte nichts zu verlieren. Alle in diesem Raum dachten, es sei zu spät. Aber es würde nie zu spät sein. Und als sie die letzte Zeile sang und sich dabei fragte, wie sie dem Ruf ins Unbekannte folgen konnte, kannte sie die Antwort.

Als der Applaus ertönte, steckte sie das Mikrofon zurück in den Halter und lief von der Bühne. Sie sah bereits von dort aus die Türschwelle, die sie überschreiten musste, um auszubrechen. Alles um sie herum, verschwand aus ihrer Wahrnehmung und sie lief zu der Türe, hinaus auf dem Parkplatz, wo ihr kleiner silberner Volvo stand, der nur darauf wartete, sie in ihr Abenteuer zu fahren. Sie ging direkt darauf zu und setzte sich rein. Für einen Augenblick musste sie ihre Gedanken sortieren, um zu begreifen, was sie hier gerade tat. Wo wollte sie hin? Doch sie wusste, dass sie die Antwort erst am Ende ihres Weges erkennen würde. Sie würde sich vom Wind dorthin tragen lassen.

Der Zündschlüssel steckte bereits und sie startete gerade den Motor, als sie ein Klopfen von der rechten Seite hörte. Ein Gesicht tauchte hinter der Scheibe des Beifahrersitzes auf. Dort stand er. Sie ließ mit zittriger Hand das Fenster runter.

„Ich wollte mit dir reden“, verkündete er. Als er so dort stand, kein blitzendes Gold an seinem Ringfinger, wusste sie, dass dies kein Zufall sein konnte. Alles fiel an diesem Tag zusammen.

„Steig ein“, verkündetet sie.

„Was?“ Er wirkte irritiert.

„Ich sagte, steig ein“, wiederholte sie ruhig und schaute ihn dabei nicht an.

„Du fährst aber nicht mit mir weg“, sagte er halb im Scherz, doch in seinem Gesicht war ein besorgter Ausdruck zu erkennen.

„Doch, genau das hatte ich vor.“ Ihre Stimme ließ keinen Platz für Ironie. Diesmal nicht.

„Hör zu, ich weiß nicht, was du vorhast oder wo du mit mir hinwillst, aber ich kann hier nicht weg“, erklärte er, während er immer noch vor dem Fenster stand.

„Warum nicht?“ Sie wusste, dass sie ihren Ruf folgen musste, doch sie wusste auch, dass ihre Reise einen Gefährten brauchte. Und dieser Gefährte hatte soeben gegen ihre Scheibe geklopft.

„Naja, ich bin mir gerade nicht sicher, wo du hinwillst. Ich habe eine Arbeit zu der ich morgen früh erscheinen muss und wenn das, was du vorhast, länger dauert, könnte es etwas spät werden.“

„Liebst du deine Arbeit?“ Die Frage brachte ihn sichtlich durcheinander.

„Wie meinst du das?“

„So wie ich es sage.“ Sie starrte immer noch geradeaus. Während des ganzen Gesprächs, hatte sie ihn kein einziges Mal angeschaut.

„Naja, es ist halt ein Job wie jeder andere. Was spielt das für eine Rolle?“ Jetzt erst blickte sie ihm direkt in die Augen.

„Dann hast du auch nichts zu verlieren. Und jetzt steig ein!“, forderte sie ihn ein letztes Mal auf. Er zögerte kurz, stieg aber schließlich ein.

Dann ließ sie den Motor aufheulen und fuhr los. Dem Unbekannten entgegen.


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Die letzten Tage des Timothys – Eine Kurzgeschichte

Es waren die letzten Tage des Timothys angebrochen. Aus ihnen gab es kein Zurück mehr. Timothy lebte schon lange an diesem Ort, als er die Botschaft bekam, dass nun alles ein Ende nehmen würde. Zumindest alles was ihn betraf.

Er nahm es mit Fassung auf. Was bei seinem Charakter hieß, dass er seine Teetasse gegen die Wand warf, bevor er sich schließlich resigniert auf seinem Sessel niederließ. Die Scherben lagen zerstreut auf den Boden, zwischen denen der zuvor heruntergefallene Telefonapparat lag. Er verweilte dort drei Stunden regungslos, ohne ein Wort zu sagen. Seine Frau Minnie traute sich nicht ihn anzusprechen. Nach einiger Zeit kam sie an und nahm tröstend seine Hand in die ihre, während sie vergebens versuchte, die richtigen Worten zu finden. Hatte er sie geliebt? Die Frage tauchte plötzlich in seinem Geist auf. Sie waren noch sehr jung gewesen, als sie im Sommer in der Provence geheiratet haben.

Die goldenen Tage glichen verblassten Erinnerungen. Der Schleier der Vergangenheit verdeckte ihre gegenseitige Liebe zueinander.

Nie hatte er ihr von seiner Affäre mit seiner Studentin erzählt. Nie von der hübschen Doktorandin, für die er sie fast verlassen hätte. Nie von diesem einen Tag, wo er fest entschlossen nach Hause gehen wollte, um Minnie zu verlassen, bevor er von seiner Affäre aufgehalten wurde und sie ihm sagte, sie hätte ein Angebot aus Neuseeland bekommen, welches sie annehmen würde. Danach hatte er sie nie wiedergesehen.

Nun saß Minnie vor ihm, während im Hintergrund das laute Ticken der Uhr zu hören war. Seine Zeit lief ab. Er stand auf, ging wortlos an Minnie vorbei, direkt auf die Tür zu und verließ das Haus, in dem er fast über vierzig Jahre lang wohnte. Er wusste bereits beim Rausgehen, dass er es nie wiedersehen würde. Es gab kein Zurück mehr.

Er begann seine letzte Reise, die auch zugleich seine erste richtige Reise war. Noch nie war er dem gefolgt, wonach sein Herz ihn rief. Angesichts seines Todes hatte er das Gefühl keine andere Wahl mehr zu haben. Er hatte es zu lange ignoriert. Etwas in ihm drängte nach Draußen. Endlich zu leben, denn Tod war er schon sein ganzes Leben über gewesen. Das erste Mal würde er leben. Kurz musste er an seine früheren Träume denken. Als er jung war, drängte alles in ihm Schriftsteller und Drehbuchautor zu werden. Er hatte diesen Traum, mit vielen seiner anderen Träume, begraben. Aus Angst. Die Angst sich seinem selbstausgesuchten Schicksal zu stellen. Er flüchtete sich lieber in seine gewohnten Bahnen des Alltags und unternahm keinen Versuch daraus auszubrechen.

Jetzt erst erkannte er es; die Angst hatte ihn gelähmt. Er war nie frei, sondern hat sich selbst in dem Käfig gefangen gehalten, statt ihn zu öffnen. Was hätte er schon zu verlieren gehabt? Sein Leben? Das hatte er schon in den Momenten verloren, in denen er ständig gegen sich selbst handelte.

Seine Angst ließ ihn vor seinem eigenen Leben fliehen und nun war es die Angst vor dem Tod, durch die er sich seinem Leben stellte.

Er ging die Straße entlang und das erste Mal in seinem Leben, kannte er nicht sein Ziel.

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Geburtstagsgrüße – Eine Kurzgeschichte

„Hast du je daran gedacht mich noch einmal zu lieben?“ Ihr sehnsuchtsvoller Blick ließ die Tiefe ihrer Verlustangst erahnen.

„Jeden Tag.“ Er nahm sie in seine Arme und drückte sie an sich. Ihr lief eine Träne die Wange herunter.

„Warum hast du dich dann nie gemeldet?“ Aus ihr kam ein Schluchzen. So viele Jahre hatte sie nichts von ihm gehört. Und jetzt stand er vor ihr und redete mit ihr, als seien die ganzen letzten Jahre nicht gewesen.

Statt zu antworten, hielt er sie weiter im Arm. Er konnte nicht antworten. Dafür hätte er die Antwort erkennen müssen und das konnte er nicht. Auch nicht, als er sie im Arm hielt.

Nachdem die Tränen versiegt waren, ging sie einen Schritt zurück.

„Ich muss gehen.“ Sie drehte sich schnell um, damit er nicht zu viel von ihrem verheulten Gesicht sehen konnte. Nachdem sie ein paar Schritte gegangen war, hielt sie inne und drehte sich um.

„Alles Gute zum Geburtstag“, sagte sie ihm noch zu. Dann verschwand sie um die Ecke.

Sie hatte seit Jahren kein Wort mit ihm gewechselt. Er war ihre erste große Liebe gewesen. Bis jetzt ihre einzige große Liebe. Als sie an diesem Tag in den Zoo fuhr, war ihr nicht bewusst, ihn hier begegnen zu würden. Einen Tag zuvor musste sie daran denken, dass er am nächsten Tag Geburtstag hatte. Doch sie wäre nie darauf gekommen, ihn an diesem Tag zu begegnen.

Und dann, nach Jahren des Schweigens, tauchte er auf und redete plötzlich mit ihr. Aus dem Nichts heraus. Sie stand am Tigergehege, als er von der Seite auftauchte und sich anfing mit ihr über die Streifen eines Tigers zu unterhalten. Es hatte sie unvermittelt getroffen.

Nach dem tränenreichen Gespräch ging sie alleine zu den Schneeleoparden, welcher direkt an der Scheibe saß. Sie war als Kind schon öfters hier gewesen, hatte dieses majestätische Geschöpf aber nie aus solcher Nähe gesehen. Sie ging näher dran und beobachtete ihn. Er sah sie direkt an. Beobachtete er sie?

Plötzlich tauchte er wieder von der Seite auf.

„Ich habe ihn noch nie so nah gesehen. Er ist wunderschön“, erklärte sie.

„Ja, das ist er“, stimmte er zu, schaute dabei aber nur sie an. Sie bemerkte seinen Blick von der Seite und sah ihm direkt in die Augen. Der Schneeleopard beobachtete sie beide.

„Es tut mir leid. Alles.“ Ohne einen Moment abzuwarten, ob sie die Entschuldigung annahm, legte er seine Hände um sie und küsste sie. Sie versteifte für einen Augenblick. Der Schock verwandelte sich schnell in ein Flattern und Zittern am ganzen Körper. Sie küsste ihn zurück.

In dem Moment wusste sie, dass all die Jahre nötig gewesen waren. Die Jahre haben sie auf genau auf diesen Moment vorbereitet.

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