Der Weg der Träume (Kurzgeschichte)

Wer bin ich? Diese Frage stellte sich Samantha immer wieder. Sie war noch jung, ging zur Schule. Trotzdem musste sie sich bereits entscheiden, was sie in Zukunft machen wollte. Du darfst bloß keinen Fehler machen, pflegte ihre Mutter zu sagen. Doch Samantha verunsicherte diese Aussage so sehr, dass sie sich nicht entscheiden konnte. Die Angst, das Falsche zu wählen und ihr Leben lang mit diesem Fehler zu leben war zu groß. Sie wollte sich am liebsten für gar nichts entscheiden.

Geld spielte in ihrer Familie eine entscheidende Rolle. Es war in ihrer Familie kaum vorhanden, sodass die höchste Priorität dort lag. Keiner konnte ihr sagen, wo sie glücklich wäre, weil gar niemand danach fragte. Den Erwartungen der anderen schien Samantha nie gerecht zu werden. In ihrer Jugend wäre sie deshalb fast im Heim gelandet, wenn ihre Großeltern sie nicht aufgenommen hätten.

Sie hatte sich auf dieser Welt noch nie wirklich willkommen gefühlt. Eher fühlte sie sich wie eine Außerirdische, die rein zufällig auf dem Planeten Erde gelandet war und jetzt zusehen musste, wie sie klarkommt.

Ihre Familienmitglieder haben bereits in ihrer Jugend all ihre Träume begraben, wenn sie denn überhaupt je welche besaßen. Sie hielten sich selbst im Käfig namens Leben gefangen ohne zu erkennen, dass das Gitter offenstand. Die Möglichkeit hinauszufliegen war immer da. Doch sie wurde nie von ihnen genutzt.

Samantha wollte nicht, wie sie werden. Trotzdem packte sie mit ihren sechszehn Jahren und der Gewissheit bald das Ende ihrer Schulzeit entgegenzusehen, eine gewisse Lebenspanik. Ihre Eltern gaben ihr zwar die die freie Wahl, doch sie durfte in ihren Augen keine falsche Entscheidung treffen, sonst verlor sie ohne zu zögern ihre Unterstützung. Und so traf sie bis zu ihrem Schulabschluss keine Entscheidung. Auch danach hangelte sie sich von einem Job zum Nächsten ohne je Erfüllung zu finden. Sie verdiente gut, musste aber ihre Eltern stets finanziell mittragen. Etwas eigenes konnte sie sich nicht leisten, denn so gut sie auch verdiente, es reichte nicht für eine eigene Wohnung. Lediglich ihr Studium war stets ihr wirklicher Wunsch gewesen. Tief in ihrem Inneren trug sie jedoch einen Herzenswunsch, den sie nur selten in ihrer Freizeit ausübte. Das Schreiben. Der Traum von einem eigenen Buch schien mit jeder Stunde, den sie damit verbrachte über die Runden zu kommen, in weiter Ferne. Von Geschreibsel kann doch keiner Leben. Ihre Mutter, die sie stets an die Liebe zu Büchern und Geschichten gebracht hatte, sah den Wert ihrer eigenen Tochter nicht und so beschloss die Tochter, es auf eigene Faust zu versuchen. Sie beendete ihren Job, weshalb sie von Zuhause rausgeschmissen wurde. Heute sitzt sie auf der immerselben Bank und erzählt den Menschen ihre Geschichten.

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Irgendwo in einer Welt voller Menschen

Irgendwo in einer Welt voller Menschen… so fing ihr Satz an, den sie sich überlegt hatte, wenn sie jemand ansprechen sollte. Emily wusste noch nicht, wie ihn beenden wollte, während sie am Rande der Tanzfläche in Mitte des Rubins stand. Wobei der Tanzschuppen wenig glamourös erschien, sondern mehr wie ein billiger Flohmarkt. Hier und da Bling-Bling, aber eigentlich nur alter, unbrauchbarer Schrott.

Was sie hierhin brachte, war eine Mischung aus Samstagsabendseinsamkeit und die Tatsache das all ihre Freundinnen bereits verplant oder in einer langweiligen Beziehung vergeben waren und damit verdrängten noch jung zu sein und gleich zu Bingo-Abende übergingen (wobei sie sich gleichzeitig fragte, welche alte Menschen heute noch Bingo spielten). Und so war sie nach einem Glas Wein und der tausendsten, deprimierenden Wiederholung von Bridget Jones auf die Idee gekommen ihre junge Zeit vollkommen auszuschöpfen und in einen Club zu gehen. Das Klientel in dem rotfarbenen Edelstein ließ zu wünschen übrig und so überlegte sich Emily bereits nach einem Glas Cola, die sie am Rande der Tanzfläche zu sich nahm, wieder nach Hause zu gehen.

Plötzlich stieß von der Seite ein großer Kerl mit leichtem Bart gegen sie. Sein Bier schwappte über ihr halbes Hemd, dass extra weiß war, um im Blaulicht leuchten zu dürfen. Sie sah ihn wütend an, holte dann aber einen tiefen Atemzug.

„Sorry.“ Der Mann hob entschuldigend seine Hand nach oben. Dann betrachtete er Emily näher.

„Ich bin übrigens Cal“, stellte er sich vor und reichte ihr die Hand, mit der er sich gerade noch entschuldigt hatte.

„Irgendwo in einer Welt voller Menschen…“ Noch bevor sie den Satz, dessen Ende sie immer noch nicht kannte, zu Ende ausführen konnte, unterbrach sie Cal.

„Hast du irgendwas genommen?“ Emily machte den Mund auf, doch Cal drehte sich bereits um und stürzte sich auf das nächste Objekt seiner Begierde, die er mit seinem Smalltalk nervte.

Emily stand wieder alleine in dem Club voller Menschen. Sie war schon jetzt genervt und wollte nicht mehr. Sie hatte gehofft, wenigstens die Musik würde sie zum Tanzen bringen. Doch statt guter Partymusik dröhnten die Boxen nur gleichbleibende Techno-Musik heraus. Sie stellte ihr halbleeres Glas auf den Tresen und drehte sich um. Was sie auch gesucht hatte, sie würde es garantiert nicht hier finden.

An der Garderobe gab sie ihre Marke ab und bekam ihre dicke Winterjacke zurückgegeben.

„Heeey!“ Ein offensichtliches laufendes Fass Bier rempelte sie von der Seite an und sprach sie an.

„Sorry“, zitierte sie den Typen von zuvor, dessen Namen sie schon wieder vergessen hatte und ging weg. Sie wusste, dass Höflichkeit anders geschrieben wurde, doch sie hatte nach diesem Abend kein Interesse mehr an oberflächlicher Höflichkeit.

Genervt stapfte sie in die kalte Dezembernacht heraus und ging durch die Menschen befüllten Straße einer Samstagnacht. Sie ging ohne Blickkontakt aufzunehmen an den Grüppchen vorbei. Ihr einziges Ziel war ihr Zuhause. Dafür musste sie zuerst die Bahnhaltestelle erreichen. Sie sah auf ihr Handy. Die Bahn würde ihn zehn Minuten da sein und sie brauchte noch fünf Minuten bis zur Bahnhaltestelle. Sie ging an zahlreichen Clubs und Bars vorbei, wobei bei Einigen laute Musik rausdröhnte. Ein Laden spielte ein wirklich gutes Lied ab. Wie gerne hätte sie an diesem Abend zu diesem Lied getanzt. Doch nun war sie bereits vor zwölf Uhr wieder auf den Weg nach Hause. Wie sie es auch drehte und wendete, sie wusste nicht, was Leute jedes Wochenende hier hintriebt außer pure Einsamkeit und Verzweiflung mit einem Hauch Verdrängung. Was versuchte sie zu verdrängen?

Diese Frage stellte sich Emily, während sich durch die Kälte der Nacht sichtbar eine Wolke vor ihrem Gesicht bildete und sich dann wieder in Luft auflöste. Bis zum nächsten Atemzug.

An der Bahnhaltestelle zeigte ihr die Tafel, die verbleibenden vier Minuten bis zum Ankommen ihrer Straßenbahn an. Ein Typ kam plötzlich auf sie zu.

„Hallo“, lächelte sie ihm freundlich zu. Sie wusste nicht, woher dieser Impuls kam. Der Typ sah sie an.

„Hallo“, lächelte er freundlich zurück und blieb einen Meter vor ihr stehen. Sein Grübchen fiel ihr selbst in dem unscheinbaren Nachtbeleuchtung auf. Sie hatte schon immer eine Schwäche für Lachgrübchen gehabt.

„Kann ich deine Nummer haben?“ Sie wunderte sich selbst darüber, sich das Fragen zu hören. Der Typ fing an breiter zu Grinsen.

„Natürlich“, sagte er. Sie hielt ihm ihr Handy hin, wo er nur noch seinen Kontakt eingegeben musste. Während er die Zahlenreihenfolge seiner Nummer eingab, merkte Emily wie hinter ihr die Straßenbahn einfuhr.

„Danke“, sagte Emily, als ihr der Unbekannte, dessen Name sie auf ihren Bildschirm leuchten sehen konnte, das Handy zurückgab. Die Bahn hinter ihr war bereits zum Stehen gekommen und sie stieg ein. Sie suchte sich einen Fensterplatz, der einen Blick auf seine Richtung freigab. Als die Bahn losfuhr, suchte sie die Bahnhaltestelle nach seinem verabschiedenden Blick ab. Aber er war bereits in der dunklen Nacht verschwunden. Eine Enttäuschung machte sich in ihrer Brust breit. Sie wusste nicht, dass dieser Enttäuschung, noch Bitterkeit weichen würde, wenn er sie morgen per Chat fragen würde, ob sie ihm Nacktbilder von sich schicken könnte. In diesem Augenblick wusste sie nur, dass schon jetzt ihre romantische Vorstellung der Realität gewichen war. Wie so viele Male zuvor. Irgendwo in einer Welt voller Menschen… Sie kannte noch immer nicht das Ende jenes Satzes.

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